Gerade auf Filmfestivals gilt oft: Je elender desto eher gibt es Preise. In diesem Sinne überrascht es nicht, dass die litauische Regisseurin Saulė Bliuvaitė gleich für ihr Regiedebüt „Toxic“ den Goldenen Leopard beim Festival von Locarno erhalten hat, doch auch wenn der Hang zum osteuropäischen Miserablismus inhaltlich etwas konventionell wirkt: Dank seines markanten visuellen Stils wird das Drama dennoch sehr sehenswert.
Über den Film
Originaltitel
Toxic
Deutscher Titel
Toxic
Produktionsland
LIT
Filmdauer
99 min
Produktionsjahr
2024
Regisseur
Bliuvaitė, Saulė
Verleih
Grandfilm GmbH
Starttermin
24.04.2025
Irgendwo im ländlichen Litauen. Fernab der größeren Städte Vilnius oder Kaunas, wo der EU-Beitritt des osteuropäischen Landes sich nicht übersehen lässt. Hier, wo die Straßen noch nicht asphaltiert sind, in den Raum gestellte Container einen Markt simulieren, das Kraftwerk im Hintergrund droht, wirkt das Leben noch archaisch.
Wer hier lebt, will raus, besonders wenn er bzw. in diesem Fall sie, jung ist. 13 Jahre alt sind Marija (Vesta Matulytė) und Kristina (Ieva Rupeikaitė), Freundinnen weniger aus echter Zuneigung, als notgedrungen. Außenseiter sind sie Beide, Marija, die von ihrer Mutter bei der vor Ort lebenden Großmutter abgestellt wurde, humpelt wegen einer angeborenen Behinderung und ist dementsprechend beliebtes Mobbing-Opfer in der Schule. Kristina dagegen wirkt beliebt, zumindest auf den ersten Blick, doch dass ihr Vater sie regelmäßig aus der heruntergekommenen Wohnung schmeißt, wenn er sich mit seinen wechselnden Gespielinnen vergnügt, drückt auf ihr Gemüt.
Nach einer Prügelei – Kristina hatte Marijas Jeans geklaut – entwickelt sich so etwas wie eine Freundschaft zwischen den beiden Mädchen, die fortan gemeinsam versuchen, dem Elend zu entkommen. Fahrkarte nach draußen soll eine Modelagentur sein, in der die überdeutlich zwielichtig wirkende Romas (Eglė Gabrėnaitė) nach Talenten sucht – und sich die Chance auf eine Karriere im Glamourbusiness teuer bezahlen lässt.
Fast alles tun die Mädchen für eine Chance. Rauchen, um keinen Hunger zu entwickeln, erbrechen auch nach kleinsten Mahlzeiten, stopfen sich die BHs mit Watte aus und bestellen gar Bandwürmer, um quasi von Innen abzunehmen. All das in einer Welt, in der auch Männer, die ihre Väter sein könnten, den Mädchen lüsterne Blicke hinterherwerfen.
Wenig wird in Saulė Bliuvaitė Regiedebüt ausgelassen, toxisch ist in dieser Umgebung fast alles. Sexuelle Gefälligkeiten, Betrug, Vernachlässigung, es ist keine schöne Welt, die die junge litauische Regisseurin zeigt, doch nicht alles ist schlecht. Immer wieder zeigt sie kleine Momente der Freundlichkeit, wirkt der eigentlich so nachlässige Vater, der seine Tochter oft ignoriert, dann doch empathisch – zumindest für einen Augenblick.
Ob man die in „Toxic“ gezeigte Welt als realistischen Blick begreift oder doch für eine allzu zugespitzte Darstellung von Elend, muss jeder Zuschauer selbst beurteilen. Unzweideutig ist das große visuelle Talent von Bliuvaitė, die ihren Debütfilm im klassischen 4:3-Format gedreht hat und bemerkenswerte Bilder findet. Egal ob in den engen Wohnungen, in denen die Tapeten wohl seit dem Untergang des kommunistischen Systems nicht gewechselt wurden oder in den Industrielandschaften, in denen Kraftwerke, Autobahnen und Hochspannungsleitungen Fortschritt suggerieren: Die markanten Bildkompositionen verleihen „Toxic“ eine ästhetische, elegische Note, die am Ende doch über die oft allzu konventionelle, sich etwas sehr dem Elend verschriebene Handlung hinwegsehen lässt.
Michael Meyns