Wir sind ein „ergänzendes familiäres Konstrukt“, aber immer nur auf Zeit. So beschreibt eine Erzieherin ihre Aufgabe innerhalb der pädagogischen Wohngruppe im brandenburgischen „Haus am See“. Wie sich der Alltag der Fachkräfte zwischen Elternersatz, Jugendamt, Bürokratie und den Herausforderungen des Zusammenlebens gestaltetet, zeigt die einfühlsam umgesetzte Doku „Im Prinzip Familie“. Der Film präsentiert exemplarisch das breite, hochkomplexe Aufgabenspektrum der Erzieher in der Kinder- und Jugendhilfe.
Über den Film
Originaltitel
Im Prinzip Familie
Deutscher Titel
Im Prinzip Familie
Produktionsland
DEU
Filmdauer
91 min
Produktionsjahr
2024
Regisseur
Abma, Daniel
Verleih
Camino Filmverleih GmbH
Starttermin
05.06.2025
In einem abgelegenen Haus am Ufer eines malerischen Sees, eingebettet in dichte Wälder, arbeiten drei Pädagogen im Schichtdienst, um eine Wohngruppe zu betreuen. In der Gruppe leben fünf Kinder. Ihr Alltag ist vielseitig: Auf dem Programm stehen gemeinsames Kochen, Wäsche waschen, Einkaufen und der tägliche Weg zur Schule mit dem Kleintransporter. Die Betreuer wollen innerhalb der Gruppe ein Gefühl des familiären Zusammenhaltes erzeugen. Und dazu gehören das Zuhören und Trösten ebenso wie der gemütliche Filmabend. Nicht selten stoßen die Pädagogen in ihrer täglichen Arbeit aber an die Belastungsgrenze – und an die Grenzen eines ganzen Systems, bedingt durch Bürokratie und schwerfällige Kommunikation.
Einige Jahre hat sich Regisseur Daniel Abma auf seinen Dokumentarfilm vorbereitet, insofern kann „Im Prinzip Familie“ allein schon hinsichtlich der Planung und Vorarbeit als Langzeitprojekt gelten. Die eigentlichen Dreharbeiten zogen sich dann nochmal über zwei Jahre. Über diesen Zeitraum war Abma mit seiner Kamera fest im Alltag der pädagogisch betreuten Brandenburger Wohngruppe etabliert. Als stiller Chronist beobachtete er die Aufgaben und Herausforderungen im Zusammenleben zwischen Erziehern und Kindern – und erhielt intime Einblicke in die Arbeit der dortigen Jugendhilfe.
Zwar lernt man im Laufe des Films vor allem drei Kinder etwas näher kennen, im Zentrum der Betrachtung aber stehen dennoch die Erwachsenen: die zwei männlichen Pädagogen und die Erzieherin. Die Kinder nennen sie nur Herr Wagner, Frau Wagner und Herr Gerecke. „Im Prinzip Familie“ zeigt, was es bedeutet, als Fachkraft in einer solchen Einrichtung tätig zu sein und was die drei Erwachsenen leisten müssen, um den Kindern Ablenkung, Sicherheit und Geborgenheit zu gewähren. Und eine selbstbewusste, widerstandsfähige Identität aufzubauen. Essenzielle Dinge, die die Kinder von ihren Eltern zuletzt nicht mehr erwarten konnten bzw. vermittelt bekamen. Sie waren nicht mehr imstande, ihrer elterlichen Fürsorgepflicht nachzukommen.
Das sieht der Zuschauer beispielhaft etwa in den (emotionalen) Telefonaten oder Gesprächen mit den Eltern, an denen die Kinder zusammen mit den Pädagogen teilnehmen. Die Rat- und Sprachlosigkeit der Eltern ist das Ergebnis einer einzigen, hemmungslosen Überforderung. Die Leidtragenden sind die Kinder. Im „Haus am See“ erleben die Kinder aber auch viel Spaß und eine Unbeschwertheit, die sie ihre Sorgen vergessen lassen. Etwa beim gemeinsamen „Abhängen“ und Videogaming, Pilze sammeln, während des Silvesterfeuerwerks oder wenn der Weihnachtsmann persönlich in der Wohngruppe vorbeischaut. Wahrhaftige, unverstellte Momente kindlicher Freude, die Abma gekonnt einfängt. Die Fachkräfte sind beste Freunde, Kurzzeit-Eltern, Seelsorger, Gesprächspartner und Kumpel – in Personalunion.
Die Kernthemen und tragenden Botschaften verhandelt der Film mit hochgradiger Sensibilität und Vielschichtigkeit. Diese sind: Jenes komplexe Aufgabenspektrum der „unsichtbaren“, da oft nur im Hintergrund tätigen und agierenden Erzieher herauszustellen. Und die Missstände eines überlasteten Systems aufzuzeigen, innerhalb dessen der professionellen Kinder- und Jugendhilfe eine entscheidende Rolle zukommt – da sie die Versäumnisse vieler Eltern ausgleichen muss. Mit klarem Blick und völlig unaufgeregt in der Umsetzung schafft Abma zudem stets eine angenehme Nähe zu den Porträtierten, ohne auf den nötigen Respekt und die erforderliche Distanz zu verzichten.
Björn Schneider